Ich bin Claudia Feuerstein, und heute geht es bei uns um Autismus im Erwachsenenalter. Ja, Autismus bringen wir ja meist mit Kindern in Verbindung, aber es gibt Menschen, die ihr Leben lang von Arzt zu Arzt rennen, von Behandlung zu Behandlung, und erst spät die richtige Diagnose bekommen, Autismus im Erwachsenenalter. Spannendes Thema. Bei mir im Studio ist die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Frau Dr. Angela Schmidt von den Bezirkskliniken Mittelfranken. Ich grüße Sie.
Dr. Schmidt: Hallo.
Frau Dr. Schmidt, Autismus bei Erwachsenen, wie oft kommt das denn vor?
Dr. Schmidt: Na ja, es ist im Grunde so, dass ein Autismus immer besteht, also schon von Kindheit an. Das gibt es quasi nicht, dass jemand als Kind gesund ist, hat keinen Autismus, und als Erwachsener wäre er plötzlich Autist. Wenn solche Phänomene vorkämen, müsste man weiter fragen, was hat er der eigentlich. Er hätte nämlich dann keinen Autismus in dem Sinne. Autismus besteht immer schon, und besteht dann eben auch im Erwachsenenalter fort. Und das ist je nach Studie so um die ein Prozent, also doch relativ häufig. Ich komme aus Erlangen. Eine Stadt wie Erlangen, ca. 100 000 Einwohner, das hieße ja, in einer Stadt wie Erlangen könnten wir ca. 1 000 mit einer Autismus-Spektrum-Störung erwarten.
Wenn Sie nun sagen, der Autismus steckt praktisch schon immer im Menschen, gibt es denn Auslöser, Lebensumstände, die plötzlich den Autismus nach vorne bringen?
Dr. Schmidt: Ja, also der Autismus ist ja ganz stark eine – ich sage jetzt einfach mal – neurologische Erkrankung, also Erkrankung tatsächlich der, klingt jetzt ganz blöd, aber vielleicht versteht man es dann besser, der Hardware, also der Nervenzellen des Gehirns, der Verbindungen innerhalb des Gehirns. Insofern gibt es jetzt nicht Auslöser, die diese Erkrankung erst hervorbringen. Was wir aber beobachten, ist, dass Menschen vielleicht mit der ähnlichen, ja, Gehirnanatomie, mit den ähnlichen Gehirnstrukturen dann vielleicht doch ein ganz anderes Ergebnis in ihrem Leben erzielen, je nachdem, wann es entdeckt wurde, wie sie gefördert wurden, in welcher Umgebung sie sich befinden, welche Entscheidung sie selber für ihr Leben getroffen haben. Das kann oft den großen Unterschied machen zwischen, ja, man kommt sehr schwer zurecht, vielleicht auch noch mit vielen weiteren Begleiterkrankungen psychischer Art, oder man kommt eben gut durchs Leben und ist eben anders als die meisten von uns sind.
Schauen wir uns doch so einen autistischen Menschen mal ein bisschen genauer an. Kann ich an bestimmten Bewegungen, Situationen oder Reaktionen erkennen, dass vielleicht Autismus vorliegt?
Dr. Schmidt: Ja, in der Tat kann ich das. Das sind interessanterweise Menschen, die vielleicht schon immer irgendwo ein bisschen Außenseiter waren, wo oft auch schon in der Schule die anderen erkannt haben, hm, die sind ein bisschen anders. Leider hat das dann bei vielen Menschen auch ein bisschen zu Mobbing geführt. Also das ist was, was wir immer wieder sehen. Ich habe auch noch eine andere Störung, bei der ich Diagnostik mache, das ist ADHS, das ist ein ähnliches Phänomen. Also wenn Kinder merken, jemand ist ein bisschen anders, Kinder haben ja ein gutes Gespür, dann sind die oftmals da nicht sehr feinfühlig, und die Menschen haben leider dann oft zu leiden, weil die anderen ja auch nicht verstehen, was die haben, bis die mal diagnostiziert sind und man es vielleicht auch mal allen erklären kann.
Tritt das häufiger bei Männern oder bei Frauen zutage, im Erwachsenenalter?
Dr. Schmidt: Also es ist häufiger bei Männern. Und man geht davon aus, dass es so zwei- bis dreimal häufiger bei Männern auftritt als bei Frauen.
Wenn ich denn nun den Verdacht habe, also vielleicht bei einem Freund, da könnte Autismus vorliegen, welche Symptome habe ich? Sie haben gerade schon gesagt, man verhält sich ein bisschen ungewöhnlich und wird vielleicht auch gemobbt. Gibt es auch körperliche Signale?
Dr. Schmidt: Es gibt auch körperliche Signale. Aber ich sage jetzt einfach mal, das Auffällige ist das Sozialverhalten. Das Sozialverhalten und die soziale Kommunikation. Das sind häufig Kinder, die nicht viel, nicht gerne in die Augen sehen. Bei Erwachsenen allerdings muss man wissen als Diagnostiker, sonst gerät man gleich auf die falsche Fährte, dass die das allermeistens können. Die können in die Augen sehen. Zumindest die Autisten, die zu uns kommen. Das sind ja oft Menschen, die doch ganz gut zurechtkommen und deswegen den Weg ja auch zu uns gefunden haben.
Also Autisten, was können Autisten nicht, und was können sie?
Dr. Schmidt: Ja, also was sie nicht so gut können, sind eben die Feinheiten der sozialen Interaktion, den ganz spontanen üblichen Blickkontakt aufnehmen und aufrechterhalten. Also sie nehmen Blickkontakt auf, unsere erwachsenen Autisten, aber wenn man genau hinschaut, sieht man, dass es anders funktioniert. Und man kann sie auch danach fragen. Man kann sagen: „Sie schauen mich jetzt hier an, das tun ja Autisten sonst nicht, warum machen Sie das?“ Und die können das sehr gut erklären. Die wissen nämlich genau, wann sie es gelernt haben. Und kein anderer Mensch. Also wenn ich Sie jetzt fragen würde, wann haben Sie gelernt, in die Augen zu gucken, dann würden Sie mich komisch anschauen und sagen: „Keine Ahnung, ist doch normal, mache ich schon immer.“ Bei denen ist das anders. Das ist die eine Seite. Dann eben, beim Sprachlichen entgehen Autisten oft die Sachen, die zwischen den Zeilen sind, also die wir sofort erkennen können, die wir keinen Autismus haben. Also natürlich je nach Typ. Mancher besser, mancher schlechter. Aber wir haben so was, wir können zwischen den Zeilen lesen, wir hören was an der Stimme, wir sehen was am Körperausdruck. Und die Menschen mit Autismus gehen sehr stark auf das Wortwörtliche, was wortwörtlich ausgedrückt wird und sprechen ihrerseits deswegen auch oft sehr, sehr präzise. Also gerade die Asperger-Autisten, die zu uns kommen, sind sehr präzise, oft sprachlich sehr gewandt, sehr genau, sehr detailgetreu. Das ist übrigens auch was, was ihnen wichtig ist und was sie gut können, auf Details achten, mit Details arbeiten, sich intensiv mit Details beschäftigen.
Kann es denn auch sein, wenn sie mathematisch zum Beispiel auch stärker begabt sind als andere Menschen, weil sie Formeln besser behalten können und so weiter, dass sie wiederum mit Worten schlechter umgehen und auch die Worte schlechter mit Gefühlen verbinden können?
Na ja, also mit Worten, das ist jetzt ein bisschen schwierig, weil mit Worten können gerade die Asperger-Autisten ..., wir haben ja ein ganz ..., jetzt muss ich vielleicht doch noch ganz kurz ein bisschen ausholen, denn wir haben ja sozusagen die Unterscheidung, traditionellerweise, zwischen den frühkindlichen Autisten, auch manchmal Kanner-Autisten genannt, und den Asperger-Autisten, und dann gab es auch noch die atypischen Autisten. Die Kanner-Autisten sind oft diejenigen, die tatsächlich auch Probleme haben, überhaupt zu sprechen, die manchmal auch eine intellektuelle Minderbegabung haben, die dann meist früher erkannt ..., weil das ist so grob auffällig, dass die Eltern sich Hilfe suchen und Hilfe suchen müssen. Menschen mit Asperger-Autismus werden oft erst spät erkannt, weil die können durchaus ganz vieles ganz gut und sind halt für die anderen Menschen vielleicht ein bisschen schrullig. Und wenn die so weit durchkommen, dann wird das erst mal gar nicht entdeckt. Es ist nämlich aber heute jetzt so, dass man zunehmend es nicht mehr unterscheidet, Kanner, Asperger, sondern sagt, es ist ein Autismus-Spektrum. Also wie so ein ganz großes kreisrundes Feld, und überall in diesem Feld gibt es unterschiedliche Ausprägungen dieser autistischen Störung. Allen ist gemein, dass sie sich schwertun mit Kommunikation, mit sozialen Zwischentönen, dass sie oft spezielle Gewohnheiten haben, spezielle Interessen, und sehr viel Planbarkeit, Ordnung, Struktur haben wollen, und wenn das aus dem Lot gerät, ja, selber sehr aus dem Lot geraten können, selber sehr erschüttert sind. Dann kommt es zu so was wie einem Meltdown, sitzen plötzlich da, weinen nur noch, weil sie einfach mit dieser veränderten Situation dann gerade gar nicht zurechtkommen können.
Können Sie dann auch aggressiv werden?
Dr. Schmidt: Ja, auch. Wobei ich jetzt mal sage, auch das ist wieder ganz starke Typsache. Ja, aggressiv ja, mit schimpfen, mit schreien. Dass die Menschen dann wirklich tätlich werden, gefährlich werden, kann es auch geben, ist aber gar nicht so, dass man jetzt Angst haben muss oder denken muss, Mensch, die Autisten sind jetzt gefährliche Menschen, primär, das ist wirklich nicht so. Das hängt auch viel damit zusammen, wie sie denn auch gelernt haben, mit ihren Emotionen umzugehen und wie viel Rückzugsraum man ihnen lässt. Also Rückzugsraum ist was ganz Wichtiges für Menschen mit Autismus. Die brauchen ihren Rückzugsraum. Also dann hinzugehen und zu sagen, Mensch, warum weinst du denn, jetzt hör doch auf, jetzt machen wir dies, jetzt machen wir das, das wäre noch mal eine Überforderung. Also lieber dann lassen, in ihren Raum gehen lassen, in ihre Struktur gehen lassen.
Nehmen wir doch einfach mal eine praktische Situation. Eine Frau lernt einen Mann kennen, man verliebt sich, und man merkt schon, ja, dieser Mensch ist vielleicht, wie Sie vorhin gesagt haben, ein bisschen schrullig, aber man liebt ihn. Woran kann ich denn erkennen, dass er nicht nur schrullig ist, sondern dass er vielleicht auch keine Gefühle zulassen kann? Oder ich komme immer wieder an die gleiche Situation, wo ich sage, Mensch, wie empfindest du die und die Situation, und er reagiert anders als ich mir das vielleicht vorstelle oder erwarte.
Dr. Schmidt: Ja, also da ist es auch wiederum wichtig, dass die Menschen mit einem Autismus fühlen. Sie selber fühlen. Sie tun sich vielleicht manchmal schwerer, es zu versprachlichen, sodass die anderen es gut erkennen können. Wo sie sich schwer tun, oft, ist, die Gefühle der anderen zu erkennen. Und da finde ich, da tritt auch oft so was ganz Nettes auf. Also wenn ich einen Menschen mit Asperger frage: „Wie ist es denn, können Sie sich in andere einfühlen, können Sie Mitgefühl haben, wenn Sie jetzt merken, zum Beispiel Ihrem Partner geht es schlecht, macht Sie das dann selber traurig?“ Und dann ist eine typische Antwort: „Wenn ich es mitbekomme, oder wenn er es mir sagt, dann macht es mich traurig, denn ich möchte nicht, dass mein Partner oder meine Freundin, dass die traurig ist. Und dann überlege ich, was ich tun kann.“
Also hier in dem Fall die Empfehlung, ganz deutlich auszusprechen, was man empfindet, was man denkt, was man fühlt.
Dr. Schmidt: Ganz wichtig.
Damit hilft man auch dem Autisten.
Dr. Schmidt: Ganz wichtig. Bei Menschen mit Autismus nicht Andeutungen machen, nicht durch die Blume, Ironie kann schwierig sein, wobei die Menschen das lernen können. Also es ist tatsächlich so, sie können es primär nicht so gut, aber sie können es mit der Zeit auch lernen, und zwar so lernen, dass sie es sogar selber auch anwenden, und dann auch mit Spaß anwenden. Ist ganz interessant. Ja.
Was ist denn dann der erste Schritt? Gehe ich zum Hausarzt und sage, mein Partner, mein Enkelkind, mein Kind, der Freund, der Kollege, der kommt mir etwas merkwürdig vor? Ist der Hausarzt wirklich der erste Ansprechpartner?
Dr. Schmidt: Also der erste Punkt ist ja quasi ein Leidensdruck. Menschen sind ganz unterschiedlich. Es gibt ...
Bei den Menschen neben dem Autisten oder beim Autisten selber?
Dr. Schmidt: Bei beiden. Ich sage jetzt mal, bei beiden. Und wenn es keinen Leidensdruck gibt, man ist halt einfach irgendwie, wie man halt ist, und jeder ist verschieden, dann muss man eigentlich erst mal gar nichts machen. Sofern aber ein Leidensdruck auftritt oder das Gefühl, Mensch, ich würde gerne irgendwas bestimmtes erreichen, so geht es aber nicht, oder es treten bestimmte blöde Situationen immer wieder auf, oder ich habe auch noch eine Depression entwickelt, also irgendwo ein Leidensdruck, dann wäre es bei diesem Verdacht tatsächlich günstig, sich an einen Psychiater zu wenden.
Und da kommen Sie ins Spiel. Gehen wir mal davon aus, ein Mensch bekommt also von seinem Arzt gesagt, Mensch, es könnte sein, dass Sie autistisch sind, Sie haben so Symptome. Dieser Mensch kommt dann also zu Ihnen ins Klinikum, zum Beispiel am Europakanal, wie geht es weiter mit der Diagnosearbeit? Wie empfangen Sie diesen Menschen?
Dr. Schmidt: Also ich bin ja in einer ambulanten Einrichtung, also in der psychiatrischen Institutsambulanz am Klinikum am Europakanal. Das heißt, wir haben keine Station, wir haben keine Betten rumstehen, wo die Leute über Nacht liegen, sondern die kommen fast wie in eine Praxis. Der Unterschied ist, dass wir mehr Personen, mehr Berufsgruppen haben, sodass wir auch mehr verschiedene Sachen anbieten können, und eben auch so eine Diagnostik. Wir haben eine Autismus-Sprechstunde. Nicht häufig, weil wir sind nicht die Uni. Es ist nicht unser Hauptberuf. Unser Hauptamt ist quasi, uns um chronisch kranke Menschen zu kümmern, die vielleicht so viel verschiedene Hilfe brauchen, dass ein Psychiater das niedergelassen gar nicht so gut machen kann. Wir haben alle drei bis vier Wochen einmal eine Autismus-Sprechstunde. Die mache ich ärztlich. Und ich beginne damit, dass ich überhaupt erst mal schaue, ist es plausibel. Also ich checke genau das ab, was ich schon vorhin geschildert habe, wie ist der Blickkontakt, wie ist der – wir nennen das – Rapport, also wie ist die Passung im Gespräch. Ich lasse mir vom Patienten natürlich schildern, was bei ihm den speziellen Leidensdruck verursacht, weshalb er gekommen ist, prüfe, ob das auch zu dem Krankheitsbild passen würde. Und was natürlich ganz wichtig ist, ich gucke, liegt noch irgendwas anderes Psychiatrisches vor. Denn das ist gar nicht selten. A) ist es gar nicht selten, dass jemand eigentlich gar keinen Autismus hat, sondern eine andere psychiatrische Störung. Das wollen wir auch gar nicht verwechseln. Und B) ist es nicht selten, dass ein Mensch mit einem Autismus noch eine Depression, noch eine Angsterkrankung, ein ADHS zum Beispiel tatsächlich auch relativ häufig noch mit dazu hat. Und das möchte ich ja auch noch erkennen. Ich stelle auch immer so ein paar Spezialfragen. Ich lasse mir immer eine soziale Situation erklären, weil das für mich sehr aufschlussreich ist.
Zum Beispiel?
Dr. Schmidt: Na ja, also ich habe so eine Standardsituation, wo ich sage, Mensch, jetzt stellen Sie sich mal vor, bei mir war ein Patient. Der kam von unten, von der Anmeldung bei uns, da hat er sein Kärtchen einlesen lassen. Und der kommt zu uns und sagt zu mir: „Ha, die Arzthelferin hat mich angelächelt, ich verstehe das gar nicht, warum hat die mich angelächelt.“ Und wenn ich Sie fragen würde, würden Sie sagen, warum hat der Sie angelächelt ...
Ich freue mich einfach.
Dr. Schmidt: Genau. Das ist Höflichkeit, das ist Kundenkontakt, das ist normal. Uns würde wahrscheinlich eher auffallen, die lächelt uns nicht an, sondern schaut recht bärbeißig. Und dem fällt jetzt auf, „die hat mich angelächelt“. Und das frage ich genau meinen Patienten und sage: „Was denken Sie selber, warum hat die Arzthelferin diesen neuen Patienten angelächelt?“ Und dann ist es wirklich ganz verblüffend, dass die Menschen mit Autismus zu 85 Prozent sagen: „Das kann ich gar nicht sagen, ich kenne die ja gar nicht.“ Oder sie sagen: „Ja, Mensch, vielleicht hat die einen Witz gehört.“ Sachen, auf die kämen wir nicht. Also da wird es schon, wo ich sage, da ist schon was auffälliges, da ist was anders als ich so erwarten würde. Wenn ich dann der Meinung bin, das würde ganz gut passen, das könnte tatsächlich sein, da habe ich einen verstärkten Verdacht, und nur dann, weil es sehr aufwändig dann wird, dann überweise ich den weiter bei uns im Haus, an eine unserer Psychologinnen. Mit mir arbeiten gerade zwei Psychologinnen zusammen, die das sehr gut machen und sehr gut erfragen können. Und die kitzeln zum einen noch mal raus, welche typischen Autismus-Symptome vorliegen, die arbeiten auch mit einem Fragebogen, den der Patient sich dann auch anschauen muss, ankreuzen muss, die interviewen selber sehr eingehend. Und dann kommt was, das nennen wir Differenzialdiagnostik. Das heißt, das ist eine abgrenzende Diagnostik, damit wir es nicht verwechseln mit anderen Erkrankungen, und zwar zuvorderst mit Persönlichkeitsstörungen. Denn es gibt ja Störungen, wo Menschen extrem schüchtern sind. Dann wirkt das manchmal auch so, als ob die Schwierigkeiten hätten im sozialen Kontakt, die Kommunikation richtig zu bewältigen, die schauen einen oft auch nicht so an. Das wollen wir nicht verwechseln. Oder sehr zwanghafte Menschen. Da könnte man denken, das ist ja ..., wie so Spezialgewohnheiten von einem Autisten. Auch das wollen wir verstehen und erkennen. Und da ist es wichtig, in unseren Fragebögen zu Persönlichkeitsstörungen kreuzen Menschen mit Autismus oft genau dieselben Sachen an wie die Menschen mit Persönlichkeitsstörungen. Wenn wir dann aber die Interviews führen, und das muss man dazu machen, man muss dann fragen: „Erzählen Sie mir doch mal genau, Sie haben da mit JA gekreuzt, warum, wie und was.“ Dann ist die Motivation, die Begründung eine ganz andere als bei einem Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung.
Kommen wir noch mal zu unserem autistischen Patienten zurück. Der kam also irgendwann zu Ihnen, war bei Ihnen, Sie haben ihn weitergeleitet. Bei welcher Zeitspanne sind wir jetzt?
Dr. Schmidt: Also jemand, der das wissen möchte, muss etwas Zeit mitbringen. Das muss man schon sagen. A) muss er erst mal warten, bis er bei mir drankommt.
Auch hier ist wahrscheinlich die Wartezeit, bis man überhaupt eingeladen wird zu einem Gespräch, sehr lange.
Dr. Schmidt: Relativ lange. Das sind ein paar Monate. Aber immerhin nicht wie in der Uniklinik, über ein Jahr, auch deswegen, weil wir keine Warteliste führen. Das macht einfach keinen Sinn. Die würde länger und länger und länger werden, und irgendwann mal würde einem gesagt werden, ja, kommen Sie 2025. Es macht einfach keinen Sinn. Bis dahin bin ich vom Fahrrad gefallen, was auch immer. Das heißt, jemand muss manchmal einfach öfter telefonieren und gucken, wann machen die wieder einen Slot frei. Und wenn er dann gerade da ist, oder wenn die Arzthelferin ihn schon mehrmals am Telefon hatte, da sind die nämlich oft ganz, ganz nett und sagen dann: „Sie haben jetzt so oft angerufen, ich besorge Ihnen jetzt den nächsten Termin, den es gibt.“ Und das ist ja auch gerechtfertigt. Jemand, dem das so wichtig ist. Genau. Also muss erst mal ein bisschen warten. Dann kommt er zu mir. Und dann muss er leider noch mal warten, bis er bei den Psychologinnen drankommt, weil wir alle sehr, sehr ausgebucht sind, und wie schon gesagt, diese Autismus-Diagnostik so ein bisschen ein Nebengeschäft ist. Also würde ich mal sagen, innerhalb von einem halben Jahr kriegt man dann diese Diagnose. Man muss zu den Psychologinnen, denke ich, fünfmal, sechsmal eine Stunde kommen, auch gewillt sein, ein bisschen was von sich zu erzählen, sich ein bisschen zu öffnen. Zum Schluss kommt der Patient noch mal zu mir oder zu mir zusammen mit der Psychologin, zum Abschlussgespräch. Dann erläutern wir noch mal unseren Befund. Also wir erklären dann, natürlich A) noch mal, hat er jetzt die Diagnose oder nicht, welche Form des Autismus, wenn man zumindest in der alten Nomenklatur ist, hat er jetzt. Wir gehen auf Fragen ein. Es können ja Fragen entstehen. Und wir fangen dann schon mal an, etwas zu beraten, wie geht es jetzt weiter. Weil das ist ja schön, wenn man dann weiß, man hat was, und wäre jetzt blöd, wenn wir sagen würden: „Ja, das haben Sie jetzt, und Tschüss.“
Welche Reaktionen erleben Sie denn von den Patienten, die zu Ihnen kommen, die vielleicht gar nicht wissen, was mit ihnen los ist, und dann sind sie also so fünf, sechs Monate bei Ihnen in ambulanter Behandlung, das ist ja alles auch noch ambulant, ...
Dr. Schmidt: Ja.
Welche Reaktionen erleben Sie denn, wenn Sie sagen: „Ich denke mal, Sie sind wirklich autistisch veranlagt.“?
Dr. Schmidt: Also ich bin da tatsächlich sehr, sehr offen. Also ich sage schon nach dem ersten Gespräch, also mein Eindruck ist ja, für mich würde sehr, sehr viel passen.
Sind die Menschen dann eher erleichtert oder eher geschockt?
Dr. Schmidt: Ja. So ist es. Nein, die sind nicht, meistens nicht geschockt. Sondern das sind ja meistens Menschen, die haben einen Leidensdruck, die wissen, irgendwas passt nicht. Und die sind oft erleichtert, dass sie endlich wissen, woran es liegt. Und es ist ja auch – wie soll ich sagen –, ganz viele Menschen ... Also das ist noch was Interessantes, Menschen mit Autismus sind ja da oft sehr rational, rationaler als wir da oft sind, die wir uns dann durch Emotionen irgendwie da vom Weg abbringen lassen. Die sagen dann: „Na ja, so ist das dann, ich funktioniere da anders.“ Und es ist für viele Menschen mit Autismus auch nicht eine Krankheit, also für mich auch nicht, sondern das ist einfach eine andere Form, eine andere Funktionsweise des Gehirns, mit ihren Vorzügen, aber auch mit ihren Problemen in unserer heutigen Welt. Oder überhaupt in unserem Alter. Und die können da oft sehr rational rangehen und sagen dann: „Ja, okay, das weiß ich jetzt. Genau. Dann mache ich das jetzt so und so und so.“ Und oft kommen die tatsächlich auch schon mit einem konkreten Anliegen. Also einer kam mal, sagte: „Ich hätte eine gute Stelle in Aussicht. Aber das ist bei einem Startup. Der könnte mich dann unterstützen oder nehmen erst mal, weil die es noch nicht so üppig haben, wenn ich eine Förderung kriegen würde vom Arbeitsamt. Die kriege ich, wenn ich irgendein psychisches Problem habe, was schwer genug ist. Und da habe ich schon lange drüber nachgedacht, ob ich nicht vielleicht ein Autist bin. Aber auch meine Mutter hat es ja schon mal gemeint, aber ich bin nie diagnostiziert worden. Aber jetzt, wo es diese Möglichkeit gibt, wäre es für mich wichtig, es tatsächlich zu wissen, weil manchmal habe ich mich in anderen Stellen dann manchmal ein bisschen schwergetan.“ Und das ist dann eben ein ganz, guter Anlass. Und da weiß man auch schon sofort, Mensch, da braucht man unseren Sozialdienst vielleicht mit drin, da braucht man vielleicht auch eine Beantragung eines Grades der Behinderung, und da kann man da oft so ein bisschen was in die Wege leiten, was konkret hilft.
Also unser Patient hat nun die finale Diagnose, ja, es ist Autismus. Wie geht es mit der Behandlung bei Ihnen weiter?
Dr. Schmidt: Also da sind wir ja nun tatsächlich im Erwachsenenbereich nicht dort, wo wir so eine kindliche Förderung eben einleiten müssen. Die Menschen sind ja meistens schon sehr, sehr weit gekommen auf ihrem Weg. Und wir hören uns noch mal ganz konkret an, was die Problemlagen sind. Und das kann so was sein, dass jemand sagt: „Nein, soweit geht es mir gut, ich erlebe keine Defizite, ich bin in einem Beruf, aber mich überfordert das oft, ich sitze in so einem Großraumbüro bei Siemens.“ Und so Reize sind für Autisten, also Lautstärke, zu viele visuelle, akustische Reize, die können die richtig fertigmachen, richtig zu so einem Meltdown eben bringen. Und dann ist es schon eine enorme Hilfe, wenn man sagt: „Ja, Sie haben die Diagnose, ich kann Ihnen das attestieren, und Sie gehen damit zu Ihrem Betriebsarzt. Und dann schauen Sie mal, was sich da machen lässt. Außerdem holen Sie sich vom Versorgungsamt einen Grad der Behinderung und schauen dann, dass Sie damit auch noch mal besondere Möglichkeiten bekommen am Arbeitsplatz.“
Denn wir sprechen hier von Menschen, die natürlich voll im Arbeitsleben stehen.
Dr. Schmidt: Ja. Zum Teil. Also es ist das ganze Spektrum. Es gibt Menschen, die eben aufgrund des Autismus, aber auch aufgrund anderer Probleme nicht ganz in der Lage sind, wirklich im ersten Arbeitsmarkt zu arbeiten, bis zu Menschen, die da topp sind, also die Wissenschaftler sind, die Ingenieure sind, die Physiker sind und das gut können, sehr gut können, aber eben andere Probleme haben. Und was wir dann noch machen, was auch sehr wichtig ist, wir gucken uns an, was sind die speziellen Bedürfnisse und gucken, dass wir das durch Beratung, durch Psychotherapie, aber nicht diese klassische Psychotherapie für eine Depression, dass wir da ein bisschen mit helfen. Und es kann zum Beispiel sein, dass einer sagt: „Ich komme immer wieder in Situationen, da sage ich was, und meine Freunde oder meine Partnerin oder meine Familie, die sind dann ganz komisch, die ärgern sich dann oder sind dann irgendwie verletzt, und ich habe doch gar nichts Schlimmes gesagt, war doch ganz höflich.“ Und dann kann es sehr, sehr wichtig und sehr gut sein, mit diesem Menschen diese Situation genau anzuschauen und zu versuchen, es zu verstehen. Also so, als würde ein, ja, wie soll ich sagen, als würde ein Außerirdischer versuchen, die Menschen auf der Erde zu verstehen oder umgekehrt, ein Mensch auf der Erde versuchen, Außerirdische zu verstehen. Und ich möchte jetzt gar nicht festlegen, wer wer ist, sondern ... Aber das kann man eben tatsächlich erarbeiten.
Das heißt, Autismus ist nicht heilbar, aber man kann gut damit umgehen und gut damit leben.
Dr. Schmidt: So ist es. Ganz genau so ist es. Da ist es auch noch mal ganz wichtig, dass man auch Begleiterkrankungen behandelt. Denn durch natürlich das erhöhte Stresslevel, die erhöhten Schwierigkeiten, die es da eben im sozialen Bereich auch gibt, können die Leute auch leichter in andere Erkrankungen reinrutschen. Und es ist auch rein vom Genetischen her mit manchen Störungen eine – wie soll ich sagen –, eine Überschneidung, eine Benachbarung. Das ist nicht dieselbe Störung, aber es ist, dass bestimmte Teile der Gene, die man angesammelt haben muss, um einen Autismus zu bekommen, auch wiederum dafür gut sind, dass man zusätzlich vielleicht leichter Depressionen bekommt oder zusätzlich leichter ein ADHS bekommt. Und da ist es ganz wichtig, das auch noch mal anzuschauen und das unbedingt behandeln zu lassen.
Übernimmt die Krankenkasse die Behandlung, Diagnose, alles?
Dr. Schmidt: Ja. Natürlich. Natürlich. Weil es wirklich eingestuft ist als psychiatrische Störung. Und damit übernimmt das tatsächlich die Krankenkasse.
Letzte Frage. Wenn uns nun jemand hört, der sagt: „Ja, ich kenne jemanden, auf den trifft das zu.“ Oder ein Hörer merkt vielleicht selber „Das kommt mir alles bekannt vor.“, was ist zu tun, was empfehlen Sie? Wohin kann er sich wenden?
Dr. Schmidt: Also ich würde tatsächlich empfehlen, mal einen Psychiater aufzusuchen. Einen Psychiater oder tatsächlich eine der Institutsambulanzen, insbesondere dann, wenn man auch noch Begleiterkrankungen hat, weil wir ja immer dafür da sind, auch die komplexeren Krankheitsbilder dann zu behandeln, die vielleicht beim Niedergelassenen, nicht, weil der es nicht kann, sondern weil der nicht noch einen Psychologen gleich an der Hand hat oder einen Sozialpädagogen gleich an der Hand hat oder einen Ergotherapeuten. Und die können natürlich auch zu uns kommen und mit uns sprechen. Ich habe noch eine Ergänzung. Wir haben auch Gruppen, die heißen Soziale-Kompetenz-Gruppen. Das sind natürlich auch Gruppen, die auch geeignet sind, Menschen mit Autismus etwas weiterzuhelfen bei den Problemen, die vielleicht mit der Kommunikation, mit dem Nicht-lesen-können-zwischen-den-Zeilen zusammenhängen kann.
Autismus im Erwachsenenalter. Wenn Sie also Fragen dazu haben oder mehr Informationen haben möchten, dann können Sie sich unter anderem an die Bezirkskliniken Mittelfranken wenden. Danke schön an die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Frau Dr. Angela Schmidt von den Bezirkskliniken Mittelfranken.
Dr. Schmidt: Ja, vielen Dank auch.
Und wenn Sie Lust haben auf mehr Informationen zu diesem und zu anderen spannenden Themen, dann abonnieren Sie diesen Podcast. Bis zum nächsten Mal. Seelische Gesundheit – im Gespräch