Seelische Gesundheit – im Gespräch

Thema: Alkoholabhängigkeit

 

Willkommen zu unserem heutigen Podcast. Es geht um Alkoholabhängigkeit. Zu Gast bei mir im Studio ist Dr. Wolf-Dietrich Braunwarth. Er ist Oberarzt der Station für Entzug und Therapie für Alkohol- und Medikamentenabhängige im Klinikum am Euro-pakanal, Erlangen. Ich grüße Sie.

Dr. Braunwarth: Grüß Gott, Frau Feuerstein.

Alkohol gehört zu unser aller Leben. Abends ein Gläschen Wein zum Entspannen, zum Anstoßen beim Geburtstag darf es der Sekt sein und zum Schweinsbraten ein Bier. Alkohol gehört bei vielen von uns ganz normal dazu und darf auch auf kaum einer Feier fehlen. Und so gewöhnen wir uns recht früh daran, ihn zu konsumieren. Manchmal merken wir gar nicht, dass wir zu viel Alkohol trinken. Herr Dr. Braunwarth, ab wann ist es denn zu viel? Das Gläschen Bier am Abend? Die zwei Gläser Wein?

Dr. Braunwarth: Ja, die Weltgesundheitsorganisation hat eigentlich sechs, wie ich finde, sehr vernünftige Kriterien formuliert. Und wenn von diesen innerhalb eines Jahres auch nur punktuell drei irgendwann mal erfüllt waren, sprechen wir von einer Alkoholabhängigkeit. Und wenn Sie sich das anschauen, werden Sie sehen, dass nur zwei davon körperliche Merkmale sind, nämlich einmal die sogenannte Toleranzentwicklung. Das ist allseits gut bekannt, dass jemand, der süchtig ist, eine viel höhere Dosis der Substanz braucht als jemand, der das nicht ist. Und das Zweite ist, dass bei Abreißen sozusagen des Nachschubes ein Entzugssyndrom auftritt. Das sind die Dinge, die man am eindrucksvollsten wahrnimmt. Aber viel wichtiger ist das, was im Kopf passiert. Denn die Frage, wie ist das Schicksal der Patienten, entscheidet sich ja nicht im Entzug, der heutzutage völlig problemlos in aller Regel gemacht werden kann, sondern an der Frage, was passiert danach. Schafft es der- oder diejenige, ihr Verhalten später so zu verändern, dass sie eben die auch heute noch leider nötige völlige Abstinenz einhält? Und diese Vorgänge im Gehirn, die sind einmal vom Betroffenen erlebter Zwang, zu trinken. Wenige Süchtige trinken wirklich nur gerne, sondern sie erleben einen inneren Zwang oder einen überstarken Wunsch. Das Zweite ist, dass ihnen die Kontrolle über die Trinkmenge und auch über die Frage, wann sie trinken, verlorengeht. Das Dritte ist, dass sie durch das Trinken Schäden ansammeln, vor allem im sozialen Bereich, in der Familie, in der Partnerbeziehung, im Beruf. Und wie man weiß, oft halt auch in der Mobilität, sprich, durch den Führerscheinverlust. Und viertens ist es eben auffällig, dass der Konsum fortgeführt wird, obwohl diese Schäden augenfällig sind. Und da haben wir jetzt die sechs Merkmale, die die WHO hier zusammengestellt hat. Und wie gesagt, wenn drei davon erfüllt sind, muss man von einer Abhängigkeit sprechen. Ich kann nur sagen, dass das der klinische Alltag auch sehr bestätigt, das ist sehr sinnvoll. Und wichtig ist auch, zu wissen, dass diese Kriterien in Deutschland 1,9 Millionen Menschen erfüllen. 

Ja, nun schwindelt man sich ja auch gerne mal in die Tasche, ich könnte jederzeit drauf verzichten, es sind doch nur zwei Gläser Wein, ich bin noch nicht alkoholabhängig. Da muss ich also hellhörig werden, wenn es immer mehr wird, oder wenn ich auch körperlich einen Entzug merke, oder vielleicht sogar meinen Alltag drauf ausrichte, dass ich am Abend dann auch wirklich eine bestimmte Menge Alkohol bekomme. Ja?

Dr. Braunwarth: Ja. Das ist absolut zu empfehlen, im Hinterkopf zu behalten, dass die Alkoholkrankheit sich im Grunde in Form eines Lernprozesses unseres Gehirns und des darin angesiedelten Belohnungssystems entwickelt. Und wie Sie gerade schon richtig anmerken, wenn jemand über lange Zeit regelmäßig hohe Alkoholmengen konsumiert, dann findet in diesem Belohnungssystem eine Umstimmung statt, und zwar in dem Sinne, dass der Wunsch nach Alkohol mit bestimmten Reizen verknüpft wird. Beispiel, jemand geht regelmäßig abends nach Hause, freut sich auf den Feierabend, fühlt sich entspannt und trinkt ein Bier. Dann kann dieses Erlebnis, ich komme nach Hause, ich erlebe ein Gefühl von Entspannung, mit dem Wunsch im Gehirn verknüpft werden, Alkohol zu trinken. Sie sehen daran auch, dass das nicht unbedingt negative Erlebnisse sein müssen. Und diese Eindrücke, das kann natürlich auch das Regal im Supermarkt sein oder das Treffen mit einem Freund, mit dem man früher viel getrunken hat, die springen sozusagen in den Vordergrund des Bewusstseins und übernehmen zunehmend die Verhaltenssteuerung. Das nennt man Incentive-Salience-Theorie. Und das ist so eigentlich die aktuelle wissenschaftliche Meinung, wie Alkoholkrankheit entsteht, die also nicht vom Himmel fällt, sondern geübt wird. 

Fast jeder von uns hat ja im Laufe des Lebens schon mal einen über den Durst getrunken, vornehmlich in der Jugend. Dann geht es einem ziemlich schlecht. Und das ist dann auch für die meisten sehr lehrreich. Manche trinken dann gar keinen Alkohol mehr. Manchmal wird das aber zur Regelmäßigkeit. Warum? Wie entwickelt sich dann daraus diese Abhängigkeit?

Dr. Braunwarth: Ja. Da haben Sie eigentlich eine sehr gute Bemerkung gemacht, nämlich manche Menschen vertragen Alkohol schlecht und andere gut. Da werde ich gleich noch mal drauf zurückkommen. Wir sprechen ja, wie Sie sehen, von der Alkoholkrankheit mit gutem Recht, weil es eben eine Krankheit ist, wie zum Beispiel auch eine Depression oder eine Angsterkrankung. Und alle unsere heute bekannten psychiatrischen Erkrankungen haben klassischerweise drei Wurzeln, eben einmal die persönliche Lebensgeschichte, das kann jetzt bei alkoholkranken Menschen zum Beispiel eine emotionale Vernachlässigung in der frühen Kindheit sein, vielleicht weil ein Elternteil auch schon selbst alkoholkrank war. Es kann dann natürlich das Modellverhalten der Eltern sein, wenn die einen unkritischen Umgang mit Alkohol vorleben, dann lernt das Kind das einfach und baut keine kritische Hemmung auf gegenüber dem Alkoholkonsum. Später sind es natürlich die Gleichaltrigen, was da üblich ist, und die Verfügbarkeit von Alkohol. Also das ist die Lebensgeschichte. Dort fließt auch noch ein, ob jemand vielleicht unter anderen seelischen Erkrankungen leidet. Da ist zu denken an Angsterkrankung, Depression, Schlafstörung, die er vermeintlich mit Alkohol behandeln kann. Und das kann ihn natürlich einladen, regelmäßig viel Alkohol zu trinken. Die zweite von den drei Wurzeln ist immer die aktuelle Situation. Das hat sehr viel mit Stress zu tun. Und da ist es sehr spannend, dass in unserem Kopf das Belohnungssystem und die Stresshormonachse eng miteinander verwandt sind, auch in der Entwicklungsgeschichte, sodass es einen eigentlich nicht zu wundern braucht, dass Menschen, die alkoholkrank sind, eine schlechte Stresstoleranz haben und dann auch wieder im Sinne eines Teufelskreises gerne Alkohol verwenden, um Stress abzubauen, womit sie aber ihre Empfindlichkeit für Stress leider noch erhöhen. Und die dritte Wurzel, das ist eben die Biologie oder der Körper. Und das, was ich wirklich, als das rauskam, sehr spannend fand, ist, dass das zumindest 50 Prozent in den Genen steckt. Das hätte man nicht gedacht. Aber die Frage, ob jemand alkoholkrank wird oder nicht, wird mindestens zu 50 Prozent von den Genen, die jemand geerbt hat, entschieden. 

Also, Sie haben es gerade schon gesagt, die Eltern leben es natürlich im Problemfall auch vor. Aber die Alkoholsucht ist tatsächlich auch vererbbar. 

Dr. Braunwarth: Ja. Und zwar eben nicht nur im übertragenen Sinne, durch Lernen am Modell, sondern tatsächlich auch genetisch. Dazu haben wir Familien-, Zwillings-, Adoptionsstudien, die das wirklich klar sagen. Interessanterweise weiß man über ein bestimmtes Gen am besten Bescheid, nämlich ein Gen, das gar nichts mit dem Gehirn zu tun hat. Da geht es darum, wie gut unsere Leber Alkohol und sein Abbauprodukt, Acetaldehyd, abbauen kann. Und wenn ich eine genetische Ausstattung habe, wo ich das nicht gut kann, dann werde ich mich nach zwei Bieren nicht mehr wohlfühlen, sondern werde Kopfschmerzen haben und einen schlimmen Kater am nächsten Tag. Und dadurch bin ich eigentlich ein Stück weit davor geschützt, alkoholkrank zu werden. Dagegen jemand, der vielleicht beruhigt feststellt, dass er sehr trinkfest ist, hat eigentlich Pech gehabt, weil er damit ein deutlich höheres Risiko hat, im Laufe seines Lebens eine Alkoholabhängigkeit zu entwickeln. Aber natürlich ist das nicht das Einzige. Generell ist ja die Alkoholkrankheit äußerst komplex. Und deswegen gibt es ganz viele Einzelmerkmale, die einen Beitrag dazu leisten können, aber nicht müssen. Da gehört natürlich auch schon die emotionale Seite dazu, zum Beispiel die Angstbereitschaft, die Neigung zu Impulsivität oder Depressionen, aber eben auch Veränderungen im schon angesprochenen Stresshormonsystem oder in unseren Belohnungssystemen. Man spricht da von einer Polygenie, ist also nicht nur ein Merkmal, das durch ein einziges Gen vererbt wird. 

Also die Tatsache, gerade unter Jugendlichen verbreitet, Mensch, der verträgt richtig viel, das ist eigentlich eher ein Nachteil. Das ist sehr interessant.

Dr. Braunwarth: Ja, der ist eigentlich zu bedauern. Oder man muss ihn gut informieren. 

Wenn ich nun merke, ich trinke wohl ein bisschen zu viel, dann ist das ja keine Erkenntnis, mit der man hausieren geht. Das wird man eher erst mal für sich behalten. Außerdem wird Alkohol bei uns gerne mal verharmlost. Was muss denn passieren, dass sich jemand wirklich Hilfe holt oder sich erst mal einen Ratschlag einholt?

Dr. Braunwarth: Das ist tatsächlich das große Problem. Und leider passiert das nur bei einem Bruchteil der Betroffenen in Deutschland, wie auch in den anderen Industrieländern. Häufig sind es dann eben doch schon massive Dinge, wie Trennung der Partnerbeziehung oder Verlust des Arbeitsplatzes, oder, wenn es weitergelaufen ist, möglicherweise auch Obdachlosigkeit, finanzielle Probleme. Dabei ist es natürlich viel besser, Menschen frühzeitig anzusprechen und für das Thema zu sensibilisieren, und sie zu unterstützen, ihr Verhalten zu ändern, zumal sie dann auch noch mehr Wahlmöglichkeiten haben. Wir gehen eigentlich davon aus, dass die Alkoholkrankheit nicht nur so ein monolithischer Block ist, sondern drei Ebenen hat. Die erste Ebene ist die, wo jemand, weil er Genuss erlebt, einfach die Alkoholintoxikation sucht, also das Genuss- oder Rauschtrinken. Aber wenn er das einige Zeit gemacht hat, erzeugt er dabei emotionale Befindlichkeitsstörungen oder auch sogar schon manchmal leichte körperliche Entzugssymptome, wenn er nicht trinkt. Und dann wird eben Alkohol benötigt, um diese Zustände wieder kurzzeitig zu korrigieren. Und da kann man sich lebhaft vorstellen, dass das rasch weiter im Sinne es Abwärtsstrudels in den Konsum führt. Und schließlich, bei Menschen, die sehr lange alkoholkrank sind, sehen wir ein, ja, automatenhaftes, ritualisiertes Trinken, das eigentlich gar keiner Reflexion mehr unterworfen ist. Und Sie sehen, dass man diese drei Stadien wirklich getrennt betrachten muss. Und wir wissen inzwischen auch, dass unterschiedliche genetische, sagen wir mal, Verletzlichkeiten in diesen drei Stadien eine Rolle spielen. 

Es gibt Hilfe, nämlich bei Ihnen im Klinikum Erlangen. Wie läuft da der erste Kontakt ab? Wenn ich mich also entschieden habe, ich habe ein Problem mit Alkohol, ich möchte mir Hilfe holen, wer und wo ist die erste Anlaufstelle bei Ihnen?

Dr. Braunwarth: Also, ich würde tatsächlich empfehlen, entweder den Hausarzt oder die Hausärztin zu fragen, denn Suchtprobleme sind in hausärztlichen Praxen extrem häufig. Man kann davon ausgehen, dass Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner sich damit beschäftigt haben. Das andere sind die Suchtberatungsstellen. Und das ist in Deutschland schon so, dass es dazu ein nahezu flächendeckendes Angebot gibt, das übrigens auch kostenlos ist, und wo professionell Suchttherapeuten erst mal auch eine Evaluation machen können. Die können einen beraten, wo steht man denn, hat man einen Missbrauch von Alkohol, einen schädlichen Gebrauch von Alkohol, oder spricht doch vieles für das Einsetzen einer Alkoholabhängigkeit. Und dann ist es tat-sächlich so, dass, wenn eben sich bestätigt, dass eine Abhängigkeit besteht, doch der erste Schritt, sozusagen der Türöffner, ein stationärer Entzug ist. Weil eben unser Körper, wenn es passiert ist, dass jemand alkoholabhängig geworden ist, sich auch an die ständige Anwesenheit von Alkohol gewöhnt hat und der plötzliche Wegfall das ganze Nervensystem aus dem Gleichgewicht bringt. Das kann zum Schluss sogar in lebensbedrohliche Entgleisungen wie ein Delir oder Anfälle münden. Im Krankenhaus ist das durch die Verordnung von Medikamenten heutzutage fast immer kein ernsthaftes Problem mehr. Aber man muss auch von vornherein sagen, der Entzug stellt nur die Abstinenz punktuell her, aber hat das Problem noch nicht gelöst. Und da möchte ich noch mal an diese Suchtkriterien vom Anfang unseres Gespräches erin-nern. Es geht dann tatsächlich um das Mentale. Und das ist eine schwierige Aufgabe, wo ich jedem nur empfehlen kann, sich Hilfe zu holen. Viele Menschen, die das erste Mal sich mit dem Problem auseinandersetzen, haben die eigentlich sehr zu begrüßende Vorstellung, wenn ich nur einen festen Willen habe, dann ist es das gewesen, ich habe das Problem gelöst. Und es braucht oft zwei, drei, sagen wir mal, Anläufe, bis dann klar wird, dass es eben nicht mit diesem einmaligen Beschluss getan ist, son-dern dass man Hilfen braucht. Aber da gibt es zum Glück auch sehr viel. Es gibt eben, je nach Lage, ambulante, teilstationäre, vollstationäre Angebote. Wobei das Gros sicher zunächst mal ambulante Angebote nutzen kann, wie eben die Suchtberatungsstellen oder ergänzend am besten Selbsthilfegruppen. In manchen Fällen ist es auch sinnvoll, ein Medikament für ein halbes Jahr zu nehmen, das den Trinkdruck reduzieren kann. Und wenn man aber merkt, dass das nicht reicht, weil vielleicht eben einfach die Lebenssituation zu schwierig ist, dann würde ich zu einer Langzeittherapie raten, die auch wiederum, denke ich, in großem Umfang bei uns angeboten wird und dann noch mal eine echte Chance bietet, eine längerfristige Abstinenz zu erreichen. 

Wie schnell würde ich denn bei Ihnen einen Behandlungsplatz bekommen?

Dr. Braunwarth: Ja, das frage ich auch immer wieder unsere Mitarbeiter. Es ist nämlich tatsächlich so, dass es in der gesamten Region einen gewissen Mangel gibt. Die Wartezeiten können manchmal sieben bis 14 Tage sein. Allerdings muss man auch wiederum sehen, dass viele Patienten, die sich anmelden, dann doch nicht zur Aufnahme kommen. Vielleicht haben sie sich in mehreren Kliniken angemeldet oder ihre Meinung geändert, sodass man, wenn man dann nachhaltig sein Interesse bekundet, sehr häufig früher reinrutscht, sozusagen. Und natürlich gibt es Situationen, wo der Entzug sofort stattfinden muss, also wenn zum Beispiel jemand einen epileptischen Entzugsanfall hatte oder Sinnestäuschungen hat, dann gibt es überhaupt kein Zögern, dann wird man den um jeden Preis sofort aufnehmen. 

Und wie sieht dann die Behandlung aus? Ich könnte mir vorstellen, ich bekomme Medikamente gegen den körperlichen Entzug. Aber Sie betreuen einen dann natürlich auch. 

Dr. Braunwarth: Ja. Da bin ich Ihnen sehr dankbar, dass Sie das fragen, denn der bloße körperliche Entzug, der auch durchaus in anderen Fachabteilungen, wie zum Beispiel bei Internisten, gut gemacht werden kann, stößt ja noch keine Entscheidungsfindung an, wie ich künftig mit diesem Problem umgehe. Und da hat sich eigentlich seit vielen Jahren der sogenannte qualifizierte Entzug durchgesetzt. Der wird nicht nur in Psychiatrien, sondern auch in manchen internistischen Abteilungen angeboten. Und der umfasst halt ein umfangreiches Informations- und Motivationsprogramm. Denn man muss sich ja klarmachen, für den Betroffenen ist es ja in gewisser Weise auch erst mal eine Zumutung, wenn man ihm sagt: „Sie sind alkoholkrank. Und eigentlich, wenn Sie das Problem lösen wollen, dürfen Sie nichts mehr trinken, und zwar das auf Dauer.“ Das sagt sich leicht, ist aber, wie Sie eingangs ja auch schon sagten, in unserer Lebenswirklichkeit nicht so einfach. Und diesen Informations-Input zu geben und aber auch an der Motivation zu arbeiten, ist eben Aufgabe des qualifizierten Entzuges, den wir anbieten, und viele andere Kollegen in Nachbarkliniken auch. Und dessen Ziel ist auch noch nicht, dass wir denken, danach ist jemand langfristig trocken, aber das Ziel, an dem man das messen muss, ist, nutzt jemand danach das Hilfesystem, also hat er dann eine Motivation aufgebaut, dass er sagt, okay, und jetzt mache ich einmal die Woche einen Termin in der Suchtberatung, ich gehe in die Selbsthilfegruppe, vielleicht melde ich mich auch für eine Langzeittherapie an. Also das ist eigentlich der Anstoß, der während des qualifizierten Entzuges gegeben werden soll. Und dafür, ja, dürfen wir in der Regel unsere Patienten drei Wochen behandeln. 

Sie haben es gerade schon gesagt, der Alkoholentzug muss dann ein Leben lang durchgehalten werden. Da gibt es ja die berühmten Alkoholpralinen oder den Kuchen, der mit Rum gebacken ist. Das gibt es dann alles nicht mehr, ja?

Dr. Braunwarth: Ja, wenn man ehrlich ist, ist es so. Ich würde Ihnen gerne was anderes sagen. Aber es ist eben noch mal das Phänomen des Suchtgedächtnisses. Wenn auch nur ein minimaler Kontakt mit der Substanz wieder stattfindet, dann fährt das hoch. Und natürlich gibt es viele Suchtkranke, die sagen, ha, ich habe da mal aus Versehen Alkohol zu mir genommen und es nichts passiert. Das stimmt. Aber in vielen Fällen ist es halt auch anders. Also ich kenne viele Patienten, die mir erzählt haben, dass sie nach einem Glas Sekt an Silvester halt, vielleicht nicht gleich, aber in den nächsten Wochen wieder in die Klinik mussten, weil eben dieser eine Kontakt mit Alkohol ausgereicht hat. Und das liegt eben in der Biologie dieses Suchtgedächtnisses begründet, das wir leider bis heute nicht, wie soll ich sagen, umschreiben können. Und deswegen muss man auch sagen, dass die Vorstellung vom kontrollierten Trinken bei Menschen, wo wirklich eine manifeste Alkoholkrankheit eingesetzt hat, leider keine Hilfe ist. So schön wie es wäre, aber es führt mittelfristig zu Rückfällen. Geeignet ist es für Menschen, wo eben noch keine Abhängigkeit da ist, sondern, sagen wir mal, ein riskanter Umgang mit Alkohol, die da sensibilisiert werden können, eben noch ihren Konsum stark zu reduzieren und zu reflektieren, bevor die Abhängigkeit einsetzt. 

Kommen wir noch mal zum kontrollierten Konsum. Also fast jeder hat ja irgendjemanden im Freundeskreis, wo man sich denkt, hey, der trinkt wirklich jeden Tag Alkohol, das beginnt auch schon mal nachmittags mit einem Gläschen Sekt. Dann spricht man diesen Menschen drauf an. Und dann kriegt man meistens eine etwas patzige Antwort, oder man wird beschwichtigt, oder man hat das Gefühl, so ganz ernst nimmt derjenige das Ganze gar nicht. Was raten Sie? Dranbleiben? Immer wieder das Gespräch suchen? Oder einfach den Mund halten?

Dr. Braunwarth: Ja, wer was sagt, der meint es gut mit dem Betroffenen. Ich denke, die Betroffenen haben es verdient, dass sie eine ehrliche Spiegelung ihres Verhaltens kriegen, dass man eben sagt, wie du mit Alkohol umgehst, das weicht davon ab, was ich von anderen Menschen kenne, und mir fällt auf, dass du zum Beispiel schon um drei Alkohol trinkst, oder dass du nach einer durchzechten Nacht dich wieder ans Steuer setzt, wo du sicher Restalkohol hast, und so weiter. Also, man sollte diese Dinge ansprechen, aber nicht werten, und vor allem nicht abwerten. Wir haben hier eine Krankheit vor uns. Und das ist ein langer, schmerzhafter Prozess, sich damit auseinanderzusetzen. Im Moment hat es der Betroffene nur erst mal verdient, dass man ihm sozusagen die Diskrepanz spiegelt, wie sein Verhalten ist und was sozusagen gut für ihn wäre. Aber das eben ohne Abwertung. Man kann dabei aber durchaus eigene Sorgen ausdrücken. Und das Ganze soll immer unterlagert sein von der Bereitschaft, zu helfen. Also alle Verhaltensweisen, die jemand ins Auge fasst, wie zum Beispiel zum Hausarzt zu gehen, um die Leberwerte kontrollieren zu lassen. Oder eine Suchtberatungsstelle zu besuchen. Das sollte man von Grund auf fördern und ihn darin bestätigen. Was man umgekehrt vermeiden muss, ist das, was man als Co-abhängiges Verhalten kennt, dass man als Angehöriger natürlich in gewisser Weise immer versucht ist, auch das Alkoholproblem, zum Beispiel des Ehepartners, zu kaschieren. Das ist ja auch für den Angehörigen hochgradig beschämend. Man muss aber sich klarmachen, dass man dadurch letztlich auch die Fortführung des Trinkverhaltens erleichtert und eigentlich in die falsche Richtung wirkt.

Also doch immer wieder sprechen und nicht einfach einen Termin ausmachen beim Hausarzt, ihn mitnehmen, und dann wird er vor vollendete Tatsachen gestellt. Das ist weniger gut. 

Dr. Braunwarth: Ja. 

Also das Gespräch suchen und vielleicht sich auch selber erkundigen, wo kann ich hingehen. 

Dr. Braunwarth: Ja. Und wenn man nun gar keinen Erfolg hat, dann kann man auch für sich selber was tun. Es gibt ja auch Selbsthilfegruppen für Menschen, die selber gar nicht alkoholkrank sind, aber deren Partner es sind. Das ist Al-Anon. Denn auch diese Angehörigen leiden natürlich sehr. Und es ist oft sehr entlastend, wenn sie mit anderen sich austauschen können, die das Gleiche erleben.

Das alles funktioniert natürlich nur, wenn der Betroffene irgendwann erkennt, ich möchte Hilfe haben. Das Eingestehen einer Sucht, das ist nicht leicht. Man schämt sich ja auch und denkt, ich bin schwach. Dabei finde ich, ist es ja gerade stark, diese Sucht zu erkennen und sich helfen zu lassen. 

Dr. Braunwarth: Die Beschämung ist natürlich ein großes Hindernis. Und umso mehr Respekt habe ich vor Persönlichkeiten im öffentlichen Leben, die sich dazu bekennen und damit, denke ich, auch ihren Leidensgenossen wirklich einen großen Dienst erweisen. Das passiert ja immer wieder in der Presse, häufig auch in den USA, das kann man wirklich nur unterstützen. Und wir arbeiten natürlich auch dran, Sie sehen ja, ich verwende gerne den Begriff Alkoholkrankheit, um eben damit zu einer Entstigmatisierung beizutragen, weil es ist nicht anders, als wenn man eine Depression hat oder eine andere seelische Erkrankung. Es sind diese drei Wurzeln, die man sich nicht ausgesucht hat. Und keiner kann entscheiden, welche Gene er bekommt und kann entscheiden, in welchem Elternhaus er aufwächst oder wie gut oder schlecht er mit Stress umgeht. Also man muss auch diesen Vorwurf oder diesen Aspekt des Versagens wirklich entschieden streichen. Das ist völlig falsch. Es ist eine Krankheit, die, wie wir inzwischen wissen, erstaunlicherweise ziemlich stark biologisch determiniert ist. 

Wir haben vorhin darüber geredet, dass die Behandlung auch medikamentös erfolgt. Welche Medikamente empfehlen Sie da?

Dr. Braunwarth: Ja, das sind sehr spannende Entwicklungen. Durch unsere wachsenden Kenntnisse über die Biologie des Gehirns und vor allem der Suchterkrankung wissen wir, dass wir bestimmte Medikamente, wie Acamprosat oder Naltrexon suchtkranken Menschen verordnen können und damit ihr Rückfallrisiko in einem gewissen Umfang geringer wird. Aber es sind noch keine Wundermittel. Man kann sich nicht allein auf so eine Tablette verlassen. Aber wenn man sie kombiniert eben mit Suchtberatung oder anderen Maßnahmen und lange genug nimmt, mindestens ein halbes Jahr, dann profitieren doch eine ganze Reihe von Menschen davon. Was jetzt die Forschung hoffentlich bald uns liefern wird, ist die Frage, welche Personen genau von diesen Tabletten profitieren und welche nicht. Denn im Moment werden die einfach diagnosebezogen verordnet. Aber wir haben noch zu wenig Wissen, zum Beispiel, um durch einen Bluttest zu sagen, jawohl, dieser Patient hat was davon, und der braucht es nicht zu nehmen. Und wie ich vorhin angesprochen habe, ist es auch so, dass wir über die verschiedenen Stadien der Alkoholkrankheit und die biologischen Vorgänge immer mehr lernen, sodass auch neue Präparate entwickelt werden, sodass ich hoffe, dass man in einigen Jahren einfach ein viel breiteres Angebot von Medikamenten hat, um den suchtkranken Menschen zu helfen. 

Nun haben Sie tagtäglich mit der Alkoholkrankheit zu tun. Trinken Sie selbst am Abend auch noch mal was, oder war es das bei Ihnen?

Dr. Braunwarth: Nein, ich bin nicht völlig abstinent. Aber mir ist eben wohl bewusst, dass man be-stimmte Dinge vermeiden sollte. Das ergibt sich aus dem Gesagten. Also man sollte eben nicht gewohnheitsmäßig jeden Tag Alkohol trinken. Man sollte nicht den Alkohol sozusagen automatisch mit bestimmten Anlässen verknüpfen, sondern das gut voneinander trennen. Und was vielleicht auch eine wichtige Botschaft ist, man soll den Alkohol nicht als Selbstmedikation einsetzen, um irgendwelche Probleme, die anderweitig besser behandelt werden können, mit Alkohol zu therapieren. Nicht wenige Menschen zum Beispiel trinken Alkohol, weil sie eine gewisse soziale Unsicherheit haben und sich dann lockerer fühlen. Und nach einigen Jahren stellen sie fest, dass sie dadurch in eine Alkoholabhängigkeit geraten sind. Man sollte also den Sinn dafür schärfen, wann, wie oft, in welchen Mengen und warum trinke ich jetzt Alko-hol. Aber es ist eben auch, muss man sagen, kein eigenes Verdienst. Manche Menschen werden abhängig, andere nicht. Die nicht abhängig werden, können ja in diesem kontrollierten Umfang durchaus begrenzte Mengen Alkohol trinken.

Sie haben es gerade wunderbar noch einmal zusammengefasst, Wege aus der Alkoholabhängigkeit gibt es. Danke an Dr. Wolf-Dietrich Braunwarth, Oberarzt der Station für Entzug und Therapie für Alkohol- und Medikamentenabhängige im Klinikum am Europakanal in Erlangen.