Seelische Gesundheit – im Gespräch

Thema: Langzeitbeatmung

I: Interviewerin, B: Befragter (Dr. Friedrich von Rosen)

 

I: Wir alle haben die Bilder in den letzten anderthalb Jahren gesehen. Hunderttausende von Menschen mit schweren COVID-Verläufen wurden auf Intensivstationen behandelt und wochenlang oder sogar monatelang beatmet. Was ist eigentlich Langzeitbeatmung? Welche Folgen kann sie haben und wie ist die Nachsorge? Darüber sprechen wir mit Dr. Friedrich von Rosen. Er ist Chefarzt des Zentrums für Neurolo-gie und Neurologische Rehabilitation im Klinikum am Europakanal in Erlangen. Ich grüße Sie.

B: Vielen Dank für die Einladung. Hallo.
 

I: Herr Dr. von Rosen, ab wann spricht man eigentlich von Langzeitbeatmung?

B: Langzeitbeatmung ist etwas willkürlich definiert als Beatmung, die am Stück länger als sieben Tage dauert.
 

I: Vielen Menschen ist das passiert, die mussten deutlich länger als sieben Tage beatmet werden. Trotz bester Intensivtherapie sind von den Patienten in Deutschland 30 bis 40 Prozent verstorben. Die meisten aber haben überlebt. Welche Folgen ha-ben Sie bei diesen Menschen beobachtet?

B: Ich würde meine Antwort gern etwas weiter fassen. Was für die COVID-Überlebenden gilt, gilt auch für Überlebende anderer schwerer Erkrankungen. Es gibt nicht nur mehrere 10 000 COVID-Überlebende, die eine Langzeitbeatmung durchge-macht haben, sondern jedes Jahr eine ähnlich große Zahl von anderen Überlebenden einer Langzeit-Intensivtherapie. Diese Erkrankungen haben vor 20, 30 Jahren noch fast immer zum Tode geführt und die Verbesserungen der Intensivtherapie und die immer leistungsfähigeren Intensivstationen, die wir in Deutschland Gott sei Dank in großer Zahl haben, haben dazu geführt, dass man zunächst einmal schwerste Erkran-kungen überlebt, aber dann noch in einem sehr geschwächten Zustand wiederherge-stellt werden muss.
 

I: Ihr medizinisches Feld ist ja die neurologische Frührehabilitation. Die ist ja in den letzten Jahren seit 1990 stark gewachsen?

B: Sie ist eigentlich erst dann entstanden. Zunächst ging es darum, dass man ge-sehen hat, dass es Menschen gibt, die nach einem schweren Verkehrsunfall mit Schädel-Hirn-Trauma überlebt haben, auf Intensivstationen entlassen werden konnten, aber es kein Wohin gab, dass die dann in hilflosem Zustand in Pflege-heimen entlassen wurden. Und das waren oft junge Menschen. Und dann hat man auch gesehen, dass Patienten nach schweren Schlaganfällen nicht wieder auf die Beine gebracht wurden, dass da auch Versorgungsstrukturen gefehlt haben. Da wurde die neurologische Frührehabilitation dann zeitgleich in vielen Kliniken in Deutschland und insbesondere auch sehr gut in Bayern aufgebaut. Inzwischen behandeln wir aber auch viele Patienten, die andere Krankheiten durchgemacht haben, die nach einem langen Intensivaufenthalt ausgeprägte Lähmungen oder Störungen der Hirnfunktion wie eine Schluckstörung aufweisen. In Deutschland gibt es inzwischen allein in der neurologischen Frührehabilitation über 1 000 Beat-mungsbetten auf eigenen Intensivstationen, in denen Patienten erst von der Inten-sivtherapie unabhängig gemacht werden müssen und das Atmen wieder selber er-lernen müssen.
 

I: Sie haben gerade gesagt, es gibt Lähmungen. Wieso führt zum Beispiel eine Lungenentzündung oder eine große Herz-OP zu Lähmungen?

B: Schwere Entzündungsvorgänge im Körper, eine Sepsis – früher hat man gesagt, eine Blutvergiftung –, die wir auch bei den COVID-Patienten regelmäßig sehen, führt auch zu einer Schädigung der Muskelzellen und zu einer Schädigung der langen Ner-venbahnen. Die langen Nervenbahnen sind die Verbindung zwischen Hirn und Rü-ckenmark einerseits und in den Muskeln andererseits. Wenn diese Verbindung nicht mehr richtig funktioniert, dann können Arme und Beine und der Rumpf nicht mehr enerviert werden. Man ist gelähmt und auch die Atemmuskulatur ist meist betroffen.
 

I: Kann man dann die Langzeitbeatmung einfach so beenden oder müssen die Patienten entwöhnt werden?

B: Die Langzeitbeatmung kann auf keinen Fall abrupt beendet werden. Anders als nach einer kurzzeitigen Beatmung für eine Operation, kann man in der Regel den Pa-tienten nicht einfach vom Beatmungsgerät wegnehmen und er atmet wieder ausrei-chend selber, sondern er muss ganz langsam daran herangeführt und trainiert werden.
 

I: Wie kann die Entwöhnung von der Beatmung gelingen?

B: Zum einen müssen wir Komplikationen vermeiden, gerade bei Patienten, die schwere Lungenentzündungen durchgemacht haben – und COVID ist da das aktuelle Beispiel –, ist die Lunge ein noch sehr verletzliches Organ. Die Oberflächenzellen der Lunge sind oft zerstört oder geschädigt, und die Lunge ist so etwas wie eine große Wunde. Und das kann sehr leicht dann zum Wachsen von Bakterien, Pilzen oder anderen Viren in der Lunge kommen und zu erneuten schweren Entzündungen. Deswegen muss man Infektionen früh entdecken, vermeiden und behandeln. Zum anderen gibt es viele andere Faktoren, die für eine Beatmungsentwöhnung wichtig sind: Die Menschen müssen ernährt werden, auch wenn sie noch nicht selber essen können. Sie müssen ausreichend ernährt werden mit einer hochkalorischen und eiweißreichen Ernährung über Magensonden, die zunächst über die Nase eingeführt werden, die man, wenn es länger notwendig ist, auch direkt durch die Bauchdecke einführen kann. Das nennt man dann PEG-Sonden. Und an diese ausreichende Ernährung ist eine Bedingung, die unbedingt notwendig ist, um einen Organismus wieder zu stärken. Dann sind die meisten Patienten blutarm nach längerer Intensivtherapie. Sie bilden relativ schlecht rote Blutzellen nach und verlieren durch medizinische Eingriffe auch immer wieder Blut, sodass man die Blutbildung anregen muss, manchmal auch transfundieren muss. Und dann müssen die Muskulatur und auch die Atemmuskulatur speziell trainiert werden. Der Mensch, der meistens noch gelähmt, hilflos ist, im Bett liegt, durch Krankengymnasten, meistens durch zwei Therapeuten gleichzeitig, mobi-lisiert wird in spezielle Mobilisierungsstühle, an Stehbrettern oder an die Bettkante danach. Auch wenn er noch beatmet wird. Und dass auch die Atemmuskulatur insofern trainiert wird, als dass die Hilfe, die das Atmungsgerät gibt, nach und nach reduziert wird und der Patient zunächst sehr kurze Zeiten auch versuchen soll, vollstän-dig selber zu atmen und danach wieder an das Beatmungsgerät kommt und die Atemmuskulatur eine Pause zur Erholung hat.
 

I: Ja, ich denke mir, man kann sich dann auch vorstellen, dass das für den Patienten ein sehr komplexer Vorgang ist. Er hat vielleicht auch Angst, dass er keine Luft mehr bekommt. Deswegen auch immer wieder ran an das Gerät und dann wieder Eigenbeatmung.

B: Ja, also Angst ist etwas, was viele Patienten in der Situation verspüren. Sie haben Angst zu ersticken. Und zum einen ist es wichtig, dass sie Vertrauen aufbauen, dass sie psychologisch einfühlsam und liebevoll behandelt werden von den Pflegekräften und Therapeuten. Manchmal muss man auch Angstreaktionen mit Medikamenten etwas dämpfen. Es gibt auch Mittel, die gegen Depressionen wirken, die auch einen guten Effekt auf Angst haben, die man dann manchmal auch vorüber-gehend einsetzt. Aber der wichtigste Faktor ist Vertrauen und das Gefühl, liebevoll betreut zu werden.
 

I: Da sind sie ja bei Ihnen wunderbar aufgehoben, die Patienten. Wenn Sie so den Überblick haben, wie oft gelingt die Entwöhnung von der Beatmung?

B: In meinem Fach in der neurologischen Frührehabilitation bei mehr als 80 Prozent der Patienten. Gründe für ein Nichtgelingen, also diese zehn bis 20 Prozent, bei denen es nicht gelingt, von der Beatmung wegzukommen, sind oft, dass die Lunge oder auch das Herz sehr schwer geschädigt sind durch die aktuelle Erkrankung oder vielleicht auch durch Vorerkrankungen und damit die Atemmuskulatur sehr viel mehr Arbeit leisten müsste, um einen ausreichenden Gasaustausch hinzukriegen.
 

I: Sie haben vorhin erzählt, es gibt vielfache Gründe, warum eine Langzeitbeatmung erfolgen muss. Kommen wir noch mal zu Corona: Wie sind denn die Erfahrungen bei COVID-Erkrankten?

B: Das Besondere im Vergleich zu anderen Formen einer schweren Lungenentzündung oder Lungenerkrankung ist, dass die Corona-Patienten oft noch länger an der Beat-mung und oft auch an der ECMO, also einer Lungen-Ersatztherapie waren, weil selbst Beatmung mit 100 Prozent Sauerstoff der Gasaustausch nicht mehr zu gewährleisten war. Dass diese Patienten also viele, viele Wochen, aber oft mehrere Monate an Lungentherapien waren. Und dass sich doch bei der Mehrzahl der Patienten die Lungen-funktion danach wieder erholen kann, oft nicht vollständig, aber in einem Ausmaß, das zu einem unabhängigen Leben ohne ständige Beeinträchtigung ausreicht. Viel-leicht können die Menschen nicht mehr in der gleichen Form anspruchsvollen Sport machen wie vorher, aber sie werden wieder selbstständig. Leider gibt es aber auch einige, bei denen die Lunge so stark geschädigt ist und sich eine so starke Narben-bildung zeigt, das die Entwöhnung von der Beatmung am Ende doch nicht gelingt. Aber das ist eine kleine Minderheit.
 

I: Und Muskelschwäche: Wie gut bildet sich eine Muskelschwäche wieder zurück?

B: Bei den COVID-Patienten haben wir beobachtet, dass die Rückbildung der Muskelschwäche das, was wir Intensivneuropathie oder Intensivmyopathie, Muskelerkran-kungen, Nervenerkrankungen nennen, dass sich das bei der großen Mehrzahl der Patienten relativ rasch wieder zurückbildet, eher schneller und besser als bei anderen unserer Patienten, sodass wir die Mehrzahl der Menschen, die wir kurz nach Ende der Beatmung bei uns aufnehmen, nach wenigen Wochen wieder auf die Füße gestellt haben.
 

I: Das sind doch schon mal sehr gute Nachrichten. Nun lesen wir immer wieder bei Menschen mit leichter COVID-Infektion von Long COVID, also Menschen, die anhal-tend unter Konzentrationsstörungen leiden, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, sie haben Kopfschmerzen, wie sieht es nach schweren COVID-Verläufen aus?

B: Störungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, also das Hören-Können und das Sehen-Könnens, des Reize-Aufnehmen-Könnens, des Fühlens, Störungen der Merkfähigkeit des Denkvermögens sehen wir bei diesen Patienten sehr häufig, gerade am Anfang, kurz nach Ende der Intensivtherapie oder während des Beatmungsent-wöhnens. Wir sehen dies aber genauso nach anderen schweren Erkrankungen. Wir wissen seit langem, dass zum Beispiel nach einer schweren Sepsis langanhaltende und nicht immer rückbildungsfähige Störungen der Hirnfunktionen da sind. Manche vorher geistig normale Patienten haben am Ende ihrer Krankheitsgeschichte schwere geistige Einschränkungen, also eine Demenz. So schlimm die COVID-Epidemie ist, wird sie doch der Medizin helfen, Erklärungen und hoffentlich auch Therapien für schon länger bekannte und dennoch rätselhafte Folgeerscheinungen und Erkrankungen zu finden.
 

I: Das ist dann dieses chronische Erschöpfungssyndrom?

B: Man liest, dass bei den Long-COVID-Patienten Menschen nach zunächst als leicht empfundenen Infektionen nicht selten ein Erschöpfungssyndrom über Wochen und Monate zurückbleibt. Wir sehen das auch immer wieder nach anderen Virusinfektio-nen, zum Beispiel Epstein-Barr-Virus-Infektionen bei jüngeren Erwachsenen. Und dieses Chronic Fatigue-Syndrom ist eine noch schlecht erklärte Erkrankung, deren Pa-thophysiologie, also was genau im Körper da abläuft und deren Therapie, sehr unbe-friedigend erklärt ist. Und jetzt wird durch die Aufmerksamkeit der COVID-Erkrankung da sehr viel Geld, sehr viel Forschungsbemühungen hineingesteckt. Und wir hoffen, dass wir durch diese Aufmerksamkeit, durch dieses Geld sehr viel lernen, was wir auch an anderer Stelle werden anwenden können.
 

I: Sie beraten und tauschen sich natürlich aus, auch untereinander, mit anderen Ärzten. Welche Gründe vermuten Sie denn, woher kommt dieses Chronic Fatigue?

B: Bei den COVID-Patienten gibt es erste Anhaltspunkte dafür, dass fehlgeleitete Re-aktionen des Immunsystems da eine Rolle spielen, dass es also verschiedenste Auto-antikörper gibt, wo das Immunsystem körpereigene Bestandteile angreift. Und zum anderen gibt es Befunde, gerade an der Uni Erlangen, dass sich die Fließeigenschaften von Blutzellen sehr lange Zeit anhaltend verändern, sodass die Blutzellen nicht mehr so leicht durch die kleinen Gefäße fließen können und damit auf der mikrosko-pischen Ebene die Durchblutung mancher Organe nicht so gut funktioniert, was dann zu viel leichter auch körperlicher Erschöpfbarkeit führt.
 

I: Wie gut behandelbar ist das? B: Das Chronic Fatigue-Syndrom nach heutigem Wissensstand ist ja nicht sehr gut behandelbar. Es gibt verschiedene Ansätze – das ist nicht mein Spezialgebiet –, aber es ist unbefriedigend. Und auch zum Long COVID gibt es noch keine wirklich gut un-tersuchten Behandlungsansätze, von denen man sagen kann, das hilft in einem sehr hohen Prozentsatz. I: Kommen wir noch mal zu den psychischen Folgen zurück: Wie gut sind die Behand-lungsmöglichkeiten in Sachen Angst oder Depressionen, was ja oft als Folge von so einer COVID-Erkrankung dann auch zu spüren und zu sehen ist bei den Patienten?

B: Ich glaube, das hat mehrere Aspekte. Es gibt Menschen, die nach einer sehr einschneidenden Erkrankungen – und das ist ja leicht nachvollziehbar –, die erstmals gespürt haben, dass sie existenziell verletzbar sind. Wir alle glauben ja mehr oder weniger, dass wir jung und leistungsfähig sind und dass uns nicht viel passieren kann.
 

I: Behandelt wird dann auch bei Ihnen am Klinikum am Europakanal?

B: Wir rehabilitieren ja Patienten, die schwere Erkrankungen durchgemacht haben, und wir versuchen immer, die Krankheitsverarbeitung, das heißt der Umgang des Patienten mit der eigenen Erkrankung und den Folgen der Erkrankung, den Behin-derungen, die daraus folgen können, den Leistungseinschränkungen auch psy-chologisch zu begleiten und eine gewisse Akzeptanz der Erkrankung zu erreichen und dem Patienten selber die Möglichkeiten zu geben, sich mit seiner Erkrankung auseinanderzusetzen, aber auch die Chancen und Ziele, die er hat, zu erkennen und an seiner Genesung zu arbeiten.
 

I: Langzeitbeatmung: Wir haben einen kleinen Einblick bekommen in den medizinischen Alltag. Herzlichen Dank an Dr. Friedrich von Rosen, Chefarzt des Zentrums für Neurologie und Neurologische Rehabilitation im Klinikum am Europakanal in Erlangen. Dankeschön und bis zum nächsten Mal.