„Ich habe furchtbar viel geweint in dieser Zeit. Irgendwann sagte Dr. von Rosen zu mir: ’Wenn wir die Tränen in Energie umwandeln könnten, hätten wir viel erreicht’. Danach hat sich mein Verhalten geändert“, erinnert sich Susanne S.. Ein viertel Jahr verbrachte sie im Krankenhaus, an den ersten Monat hat sie keinerlei Erinnerungen. „Vieles muss ich mir von meinem Mann und meinen Söhnen erzählen lassen. Die Viren haben in meinem Gehirn sehr sehr radikal gewirkt“, erzählt sie heute.
Rückblick: Im Sommer 2017 geht es Susanne S. zusehends schlechter. Zunächst fühlt sie sich müde und schlapp. Im weiteren Verlauf kommen Fieber und Appetitlosigkeit hinzu. Die erste Diagnose lautet Burn-out. Doch als sich nichts bessert und es immer schlimmer wird, bringt ihre Familie sie ins Krankenhaus. Goldrichtig, wie sich herausstellt: Mit Hilfe einer Lumbalpunktion, einer Entnahme und Untersuchung des Nervenwassers, stellen die Ärzte die Diagnose „Frühsommer-Meningoenzephalitis“, kurz FSME. Der genaue Auslöser ist nicht bekannt, typischerweise übertragen Zecken das Virus. „Ich habe keine Zecke jemals gesehen“, erinnert sich Susanne S.. „Bei einem meiner Spaziergänge flog mir aber in zeitlich passendem Zusammenhang ein Insekt ins Auge und stach mich. Es war so schmerzhaft, dass ich auf den Boden gefallen bin und dachte, ich komme nicht mehr nach Hause. Ob das die Ursache war, wer weiß.“ Susanne S. erkrankt an einer sehr seltenen Form der FSME, die eigentlich vermehrt im Ausland vorkommt.
Nach der Akutversorgung in der Nürnberger Neurologie, wird sie ins Zentrum für Neurologie und Neurologische Rehabilitation im Klinikum am Europakanal Erlangen verlegt. Dort verbringt sie drei Monate und kämpft sich ins Leben zurück.
Weder die Untersuchungen im Nürnberger Krankenhaus, noch die Verlegung nach Erlangen kann sie sich heute ins Gedächtnis rufen. Ihre Mutter, die sie, wie ihre ganze Familie, regelmäßig besucht, führt Tagebuch. Darin schreibt sie: „Susanne liegt regungslos auf dem Rücken, sie ist bewegungslos. Sie bekommt Nahrung über den Schlauch in der Nase. Sie hat einen Katheter. Ihre Augenbälle sind übermäßig angeschwollen, ihre Lider schließen nicht.“
Das war Anfang August. Erst Mitte September, gut einen Monat später, kann sich Susanne S. selbstständig im Bett aufrichten und geht die ersten wackeligen Schritte in Begleitung eines Pflegers durch das Zimmer.
Das erste Mal wird sie sich bewusst, wo sie ist und wie schlecht es ihr geht. „Meine Familie behauptet, ich hätte immer gewusst, wo ich war. Ich habe daran aber keinerlei Erinnerung“, so Susanne S..
Sie erhält starke Medikamente, hat extreme, sehr verstörende Träume, sieht bunte Farben an den Wänden und hat Schwierigkeiten sich im Raum zurechtzufinden. Mehrmals pro Nacht klingelt sie nach einem Pfleger, weil sie nicht weiß, wo oben und unten ist. „Ich habe verstanden, dass ich krank bin, aber ich war vollkommen weg“, schildert Susanne S. das Erlebte. Sie ist in dieser Phase verwirrt und lebt in ihrer eigenen Realität: „Es gab einen Tag, an dem ich dachte, das Krankenhaus sei von russischem Militär übernommen worden. Ich habe russische Uniformen an den Pflegern gesehen – ich schwöre es. Aber sie waren natürlich nicht da. Ich dachte, ich sei auf einer anderen, fremden Station. Heute erkläre ich mir dieses versetzt sein in ein komplett anderes Leben, wie in einem Film in einer anderen Sprache, so, dass mein Gehirn auf einen neu auf der Station arbeitenden Pfleger mit russischem Hintergrund reagiert hat. Als Sprachdozentin kann ich natürlich auch nur leichte Akzente einer anderen Sprache gut erkennen, Mein Gehirn hat daraus selbstständig eine eigene Welt gezaubert. Ich wollte mich auch von diesem Pfleger nicht waschen und fürs Frühstück richten lassen. Bei einem Besuch in der Klinik ein Jahr später habe ich mich bei ihm für mein Misstrauen entschuldigt. Er sagte nur lachend, er habe es schon fast vergessen!“
Familie und Freunde besuchen sie in dieser Zeit jeden Tag. „Das war so wichtig für mich. Sie sagten mir ‚Die Wände sind weiß, die Pfleger sind ganz normal’. Sonst wäre ich verrückt geworden.“
Susanne S. muss alles neu lernen. Selbstverständliche Dinge, wie Trinken, eine Gabel halten oder Laufen – die Viruserkrankung hat große Spuren hinterlassen. Zudem sieht sie schlecht: Doppelbilder machen das Greifen eines Gegenstandes beinahe unmöglich: „Ich habe neben das eigentliche Glas gegriffen, es hochgehoben, getrunken und wieder hingestellt und das mit den Worten ‚Jetzt habe ich aber genug getrunken’. Für meine Söhne war das manchmal lustig. Es muss ihnen aber auch Angst gemacht haben, ihre Mutter so neben der Spur zu sehen.“.
Trotz der enormen Einschränkungen lässt sich Susanne S. nicht unterkriegen. Anstelle aufzugeben entscheidet sie sich, wenn auch nicht bewusst, für den Gegenangriff. Durch das schlechte Sehvermögen, prägt sich ihr Hörsinn stärker aus. Ärzte, Therapeutinnen und Pfleger erkennt sie bereits am Gang. Letztere schreiben ihre Namen in Großbuchstaben auf, damit sie sie lesen kann. „Ich habe mit allen gesprochen und versucht eine Beziehung zu entwickeln“, beschreibt sie die Situation. Auch mit den Mitpatienten kommt sie aktiv ins Gespräch: „Wir konnten alle alles nicht. Ich habe die Erbsen auf dem Teller nicht gefunden. Wie kann man auch einer Halblinden Erbsen mit der Gabel zum Essen geben? Das kann ja nicht mal ein Gesunder!“, sagt sie und lacht dabei. Ihre Zimmernachbarn und sie bauen sich gegenseitig auf, helfen sich, den Mut nicht zu verlieren und halten sich bei Laune. Als Susanne S. einen eigenen Rollstuhl bekommt, trifft sich die Station auf dem Gang: „Eine Schwester kam dazu und hat gesagt `Hier geht’s ja zu wie am Plärrer`“. Was rückblickend wie eine lustige Szene aus einer Komödie klingt, ist in diesem Moment eine wichtige Hilfe: „Wir haben uns so am eigenen Schopfe herausgezogen“, erinnert sich Susanne S..
Die Therapieeinheiten genießt sie regelrecht, denn von Mal zu Mal gewinnt sie dadurch ihre alte Selbstständigkeit zurück: „Ich habe alle Formen der Reha und alle Therapeutinnen und Therapeuten geliebt. Sei es Logo- und Ergotherapie oder Radfahren im Bett.“
Ihre Familie stützt sie und stützt sich auch gegenseitig. Gespräche mit dem behandelnden Team waren sowohl für sie, als auch für ihre Angehörigen eine große Hilfe. Sie konnten beruhigen und Hoffnung machen: „Das wird wieder, aber es dauert lang.“ Denn FSME kann nicht mit Antibiotika behandelt werden. Da es sich um eine Virusinfektion handelt, muss das Immunsystem alleine damit fertig werden. Medikamente können lediglich unterstützen.
Ihr Lebenswille ist geweckt und so läuft sie Treppen, geht gemeinsam mit den Pflegern in den Garten auf den Barfußpfad und lernt wieder mit Besteck zu essen. Dafür ist sie dem gesamten Team des Zentrums für Neurologie und Neurologische Rehabilitation unendlich dankbar:
„Ein Jahr nach meinem Klinikaufenthalt bin ich nochmal ins Klinikum am Europakanal gefahren und habe mich bei allen, die mir damals geholfen haben, bedankt. Ich habe mich sehr emotional und unter einigen Tränen verabschiedet. Immerhin habe ich ein viertel Jahr meines Lebens dort verbracht.“
50 Stunden pro Woche arbeiten – das war für Susanne S. vor ihrer Erkrankung kein Problem. Die Dozentin für Deutsch als Fremdsprache unterrichtete nicht nur angehende Studenten aus dem Ausland, sondern auch CEOs großer Firmen. „Ich hatte eine hohe Fallhöhe. Ich bin ein Arbeitstier, arbeite unheimlich gerne und habe Schwierigkeiten mich zu entspannen“, beschreibt sich Susanne S. selbst. Vieles hat sich seitdem verändert. Autofahren darf sie beispielsweise aufgrund ihrer Sehbeeinträchtigungen derzeit nicht. Auch langes Laufen in unbekanntem und unebenem Gelände oder die Arbeit am Computer strengen sie deutlich an. Jede Art von Veränderung, Ortswechsel, größere Menschenansammlungen, Krach und Gewusel sind für ihr Gehirn nur schwer zu verarbeiten. „Meine Krankheit sieht man mir heute von außen kaum noch an, aber mein Gehirn, also meine Nerven, nehmen Vieles übel. Es gibt keine schnurgerade Erfolgsgeschichte. Der ständige Schwindel bleibt, weil das Gleichgewichtsorgan massiv gestört ist. Immer wieder habe ich Rückfälle, muss wieder einen Gang runterschalten, habe mit Folgeproblemen zu kämpfen, bin auch frustriert, weil ich etwas wieder nicht so kann wie früher. Dieser Zustand kann noch lange dauern. Das muss man aushalten.“
Und noch etwas fällt ihr schwer: nichts tun. „Ohne schlechtes Gewissen draußen in der Sonne zu sitzen, musste ich erst lernen. Sobald ich zu stark am Limit arbeite, streikt mein Körper“, weiß Susanne S.. Dieser Lernprozess dauerte und tat manchmal weh – körperlich wie seelisch. Aufgeben kam für sie trotzdem nie in Frage: „Ich bin ein Stehaufpersönchen. Ich krabbel da irgendwie wieder raus. Und ich suche mir Hilfe, wo es irgendwie geht: Mit Sport, mit Therapie, bei Gesprächen mit Freunden und durch die Entwicklung neuer Hobbys“
Einige Interessen haben sich durch die Krankheit zudem verschoben. Da die Augen das Lesen dicker Bücher nicht mehr zulassen, hat sie sich auf das Hören von Hörbüchern verlegt. Die frühere begeisterte Stepptänzerin geht mittlerweile zur Tanztherapie und zum Rehasport. Kleine Besorgungen erledigt sie zu Fuß oder mit der Bahn, ein Rollator hilft ihr dabei. Doch auch der soll bald weichen. Ihr Haus wurde mit einem speziellen Treppengeländer ausgestattet. So kann sie selbstständig ihren Alltag gestalten. Ihr Garten ist ihr zusätzlich ein wichtiger Bezugspunkt. Hier pflanzt sie Kräuter und setzt sich, auch wenn es manchmal schwer fällt, in die Sonne.
Ihr ist es wichtig, neben ihrer Erwerbsminderungssrente, in geringem Umfang arbeiten zu gehen. Vier Stunden pro Woche unterrichtet sie noch in der Uni. Ihre Kolleginnen und Kollegen der Universität Erlangen haben sie während ihrer Krankheit immer unterstützt.
„Ich lerne noch heute“, sagt sie und erklärt stolz, dass sie nun ihre Hose wieder im Stehen anziehen kann ohne umzufallen. Solche Erfolge schreibt sich Susanne S. auf. Sie möchte nicht vergessen, was sie bereits alles geschafft hat. „Mit zunehmender Zeit werden die Erfolge kleiner, unsichtbarer. Da ist es wichtig, sich auch kleinste Verbesserungen vor Augen zu führen und zu feiern.“
Doch ohne die großartige Unterstützung ihrer Familie wäre vieles davon nicht möglich gewesen: „Wir haben in der Familie so ein Optimismus-Gen. Wenn wir zusammen sind, geht es uns gut und wir haben immer etwas zu lachen, auch, und besonders in schwierigen Zeiten.“
„In den ersten Wochen zu Hause musste mir ständig jemand helfen, zum Beispiel beim Treppensteigen und beim Duschen.“ Die Schwester fährt in dieser Zeit wie schon während der gesamten Phase in der Klinik regelmäßig von München nach Nürnberg, ihr Bruder nimmt mehrfach Urlaub, um von Hamburg zu kommen und eine Woche lang Pflegedienste zu übernehmen. Die Mutter kommt in Abständen und auch ein Onkel nimmt sich eine Woche Zeit. Die Söhne und ihr Mann, welcher jedoch in den USA arbeitet, organisieren Kleidung, kochen Essen, Freunde bringen Kuchen vorbei, übernehmen Autofahrten zu Ärzten oder holen sie für einen kurzen Spaziergang. ab. Das schweißte alle Verwandten und Bekannten eng zusammen: „Die lieben sich jetzt alle, wenn sie sich auf Festen wiedersehen!“
Susanne S. hatte großes Glück. Bei vielen FSME-Patienten verläuft diese Form tödlich oder der Betroffene endet als Pflegefall.
„Ich kann das Glück sehen, dass ich wieder hier im Garten sitzen kann. Dafür bin ich unglaublich dankbar.“
FSME ist die Abkürzung für Frühsommer-Meningoenzephalitis und bezeichnet eine Viruserkrankung, bei der sich Gehirn und Hirnhäute entzünden können. Das Tückische an der Krankheit: Gegen das Virus selbst gibt es keine Medikamente. Dr. Friedrich Freiherr von Rosen, Chefarzt des Zentrums für Neurologie und Neurologische Rehabilitation am Klinikum am Europakanal Erlangen, spricht über Behandlungsmöglichkeiten, Impfschutz und Vorkommen des Erregers.
Wie wird FSME übertragen?
Die Erkrankung wird vorwiegend von Zecken übertragen. Die Risikogebiete, in denen man übertragende Zecken vorfindet, haben sich immer mehr ausgebreitet. Betroffen ist inzwischen fast ganz Deutschland.
Das Robert-Koch-Institut verzeichnete im vergangenen Jahr (2018) 584 gemeldete FSME-Fälle. Das sind rund 100 mehr als im Jahr davor. Wie kann ich mich vor einer Ansteckung schützen?
Es gibt eine Impfung gegen das Virus. Allerdings ist der Impfschutz der Bevölkerung sehr niedrig. Da die Krankheit im Vergleich zu anderen Virusinfektionen nicht so häufig ist, sehen viele die Notwendigkeit nicht. Doch gerade für Menschen, die sich sehr viel im Freien aufhalten, ist die Impfung ratsam.
Für den Fall man steckt sich an: Wie kann FSME behandelt werden?
Für FSME gibt es kein direktes Heilmittel. Die Vermehrung der Viren im Körper kann nicht durch Medikamente gestoppt werden. Der Krankheitsverlauf kann lediglich begleitet und es können Komplikationen behandelt werden. Es liegt am Immunsystem des Patienten, die Erreger zu besiegen. Allerdings können bis dahin Hirnschäden entstanden sein, die zum Teil irreversibel sind.
Susanne S. erkrankte an einer sehr schweren Form der FSME. Welche Verläufe der Krankheit gibt es?
Die Virusinfektion befällt nur bei einem kleineren Teil der Patienten das Gehirn. Bei vielen treten lediglich grippeähnliche Krankheitszeichen auf. Wenn sich jedoch eine Hirn(haut)entzündung bildet, können schwere Symptome die Folge sein. Diese bilden sich aber bei den meisten Betroffenen im Verlauf der Erkrankung zurück. Nichts desto trotz kann es zu bleibenden Spätfolgen kommen.
Bei Frau S. lag ein schwerer Verlauf vor. Sie war bettlägerig und hat sehr viel geschlafen. Hirnareale, die für die Augenbewegungen zuständig sind, waren stark geschädigt. Das ist sehr ungewöhnlich. Bei solchen Fällen kann es sein, dass die Motorik stark eingeschränkt ist und sich diese auch nur partiell erholt.
Wie lief die Behandlung im konkreten Fall ab?
Zunächst haben wir herausfinden müssen, ob ihre Schläfrigkeit mit durch die Entzündung hervorgerufenen epileptischen Anfällen zusammenhängt. Dies war glücklicherweise nicht der Fall. Die Virusinfektion wirkte in Hirnarealen, die für die Steuerung der Wachheit zuständig sind. Daraufhin erhielt sie Medikamente, die diesen Zustand verbesserten. Erst nachdem diese Phase überwunden wurde, konnte Frau S. aktiv an Therapien teilnehmen. Dazu zählten Physio- und Ergotherapie. Sie musste motorische Abläufe neu einüben, konkret beispielsweise selbständiges Sitzen und Gleichgewicht halten. Ein großes Problem waren dabei die Augenbewegungsstörungen und die Doppelbilder, die zu Schwindelgefühl führten.
Bei solch schweren Verläufen der FSME-Erkrankung können Folgeschäden bleiben. In welchem Zeitrahmen kann man von einer Besserung ausgehen und ab wann bleibt der Zustand stabil?
Eine Erholung kann über sehr lange Zeit ablaufen, die Verbesserungen werden aber mit der Zeit geringer. Die größten Veränderungen sehen wir in den ersten sechs Monaten, beispielsweise auch bei Unfallschäden. In der Zeit danach werden die Verbesserungen kleiner. Gerade Patienten die mit Zähigkeit und hohem Einsatz weiter an sich arbeiten, erleben Fortschritte über sehr lange Zeit.